Virtuelles Objekt des Monats

Das virtuelle Foto in National Geographic Explore VR

Ein Gamingfeature, das kolonialistische Entdeckungspraktiken fortschreibt

Nicola Przybylka

März 2024
National Geographic Explore VR: Mission Machu Picchu (Screenshot: Vertigo Games)

Entstehungsgeschichte: Was ist das virtuelle Foto in National Geographic Explore VR?

Das virtuelle Foto, um das es im Folgenden geht, ist integraler Bestandteil der 2019 veröffentlichten Virtual Reality (VR) Anwendung National Geographic Explore VR, die von dem Entwicklerstudio Force Field Entertainment (jetzt Vertigo Games) in Kooperation mit National Geographic exklusiv für die Meta Quest (ehem. Oculus Quest) entwickelt wurde. Der*die Spieler*in erhält darin den Auftrag, ein Cover-Foto für eine Ausgabe des National Geographic Magazins 1. von einer Pinguin-Kolonie in der Antarktis und 2. von der Inka Stätte Machu Picchu aufzunehmen.

Über dieses Spielziel hinaus können während der virtuellen Expeditionen beliebig viele Fotos angefertigt werden. Es besteht die Möglichkeit, diese in einer Galerie zu arrangieren, die sich im loftartigen Startraum befindet, der zugleich als Hauptmenü der VR-Anwendung fungiert. Dieser Raum wird zudem mit stilisierten Tiertrophäen dekoriert, sobald optionale Fotos von ausgewählten Wildtieren ‚geschossen‘ wurden. Bei der Expedition ‚Machu Picchu‘ sind zudem weitere Fotoaufträge spielleitend. So sollen die Fotografien des Forschers Hiram Bingham, der 1911 die Ruinen von Machu Picchu archäologisch erforschte, nachgestellt und heilige Reliquien fotografisch dokumentiert werden, die der*die Spieler*in auf eine vorgegebene Weise arrangieren muss.

National Geographic Explore VR:
Startraum (l) | Mission Machu Picchu (r) (Screenshots: Nicola Przybylka)
Kompetenzen: Was kann das virtuelle Foto in National Geographic Explore VR?

Der Kameramodus wird aktiviert, sobald die Kamera mit dem rechten Controller vor die VR-Brille geführt wird. Das Sichtfeld erscheint als Blick durch einen Sucher; es lässt sich zoomen und in den Panoramamodus wechseln. Der Screenshot – oder besser formuliert – der Snapshot erfolgt per Knopfdruck mit sicht- und hörbarem Verschluss des virtuellen Kamerasensors.

Das virtuelle Foto hat wesentlich die Funktion, die Handlung der Anwendung voranzutreiben und ihr eine narrative, lineare Struktur und Zielperspektive zu verleihen. In einem Bericht über National Geographic Explore VR wird eben diese handlungsleitende Funktion positiv hervorgehoben: „Der fotografische Aspekt hat es mir angetan. In anderen Reise-Apps tut man in der Regel nicht viel: Man sucht einen Ort auf, geht ein paar Schritte, schaut umher und das wars“ (Bezmalinovic 2022). Zudem fördern die Fotoaufträge einen suchenden, erkundenden Blick, der primär ästhetisch motiviert sein mag und weniger fachliches Interesse am fotografierten Gegenstand zum Ausdruck bringt.

Erkenntnisse: Was zeigt das virtuelle Foto in National Geographic Explore VR?

Das virtuelle Foto in National Geographic Explore VR kann zum Anlass genommen werden, über die medientechnischen, diskursiven und auch normativen Dimensionen der symbolischen Repräsentationen von und Zugängen zur Welt zu diskutieren. So wählen wir mit dem Sucher des virtuellen Kameraapparates einen für uns ästhetisch ansprechenden Bildausschnitt von einer ebenfalls kompositorisch aufbereiteten, computergenerierten Natur-Kulisse. Diese wechselt zeitweise in eine Rekonstruktion der Stätte aus dem 15. Jahrhundert. Das virtuelle Machu Picchu wiederum ist selbst durch Photogrammetrie, also die digitale Verarbeitung mehrerer tausend Fotos der Inka-Stätte, entstanden. Die vielfachen Einschreibungen sowie datentechnischen Übersetzungsprozesse werden in National Geographic Explore VR selbst jedoch verunsichtbart.

Meta-Slogan: It’s Your World

Auch stellen sich machtkritische Fragen dazu, wer eigentlich was ‚bereist‘ und fotografisch dokumentiert. Die VR bietet mir eine Subjektposition an, die nach den heldenreichen Geschichten (überwiegend weißer, männlicher) Fotografen gestaltet ist, von denen die üblichen Formate von National Geographic erzählen. Anstatt von diesen Geschichten zu lesen, bin ich es nun, als Besitzerin eines kostspieligen VR-Headsets, die die Natur entdeckt, ihren Unwägbarkeiten trotzt und am Ende mit einem ikonischen Coverfoto belohnt wird. Wenn ich dabei qua Spieldesign – optional mit einem virtuellen Forscherhut – für einen Schnappschuss heilige Opfergaben arrangieren, Ahnenriten der Inkas nachstellen und Fotografien einer US-amerikanischen Expedition von 1911 reproduzieren muss, dann perpetuiere ich körperlich-leiblich eurozentrische Blickregime und Entdeckungserzählungen mit kolonialistischem Gestus. Auch mit der Tierfotografie und dem Sammeln von Tiertrophäen wird an Medienpraktiken der Natur- und Tierdokumentation angeknüpft, die auf eine gewaltvolle und gleichfalls kolonialistische Geschichte zurückblicken.

Die seit über 130Jahren vollzogene medienstrategisch überaus erfolgreiche, kolonial geprägte (proto-)dokumentarische Praxis des Unternehmens National Geographic (Linseisen 2023) wird in die hedonistisch anmutenden, virtuellen Welten überführt und fortgeschrieben. Der Slogan It’s Your World, mit dem der Tech-Konzern Meta seine VR-Technologie bewirbt, ist vor dem Hintergrund dieser virtuellen Form der Weltaneignung zusätzlich problematisch. Da National Geographic Explore VR exklusiv für die VR-Brillen von Meta produziert und eine Share-Funktion der Fotos via Facebook integriert wurde, bietet sich das virtuelle Foto nicht zuletzt auch als Einsatzpunkt dafür an, die infrastrukturellen Möglichkeitsbedingungen und kapitalistischen Logiken zu problematisieren, die unsere Zugänge zu und Aneignungen von Welt bestimmen.

Quellen

Bezmalinovic, Tomislav (2022): National Geographic VR im Test: VR-Reisen für Quest (2). https://mixed.de/national-geographic-vr-test/ (05.01.2024).

Linseisen, Elisa (2023): Protodokumentarisches für alle! Wirklichkeit applizieren mit der National-Geographic-App. In: Tabea Braun, Felix Hüttemann, Robin Schrade, Leonie Zilch (Hg.): Dokumentarische Gefüge. Relationalitäten und ihre Aushandlungen. Bielefeld: transcript, S. 23–52.

Meta-Slogan (2024, Screenshot). Online unter: https://about.meta.com/ (30.01.2024).

National Geographic Explore VR (2019): Mission Machu Picchu. Online unter: https://vertigo-games.com/games/national-geographic-explore-vr/ (30.01.2024).

weiterführende Literatur

Kanderske, Max; Thielmann, Tristan (2019): Virtuelle Geografien. In: Dawid Kasprowicz, Stefan Rieger (Hrsg.): Handbuch Virtualität. Wiesbaden: Springer, https://doi.org/10.1007/978-3-658-16358-7_12-2, S. 279-301.

Nash, Kate (2018): "Virtual reality witness: exploring the ethics of mediated presence". Studies in Documentary Film 12 (2): 119–31. https://doi.org/10.1080/17503280.2017.1340796.

Das Virtuelle Objekt des Monats

Seit April 2023 stellen wir jeden Monat ein „Virtuelles Objekt des Monats“ (VOM) auf der Website des Sonderforschungsbereichs 1567 „Virtuelle Lebenswelten“ vor. Die präsentierten Objekte entstammen der Forschung in den Teilprojekten. Im Zusammenspiel von Text und Animation, desktop- oder smartphonebasierter Augmentierung oder anderer grafischer Aufbereitungen eröffnen wir Einblicke in die verschiedenen Forschungsthemen und den Arbeitsalltag des SFB. Das VOM macht unsere Wissensproduktion transparent. Zugleich wollen wir hier mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wissensvermittlung in und durch Virtualität und Visualität experimentieren.

Das „Virtuelle Objektdes Monats“ ist mehr als ein populärwissenschaftlicher Text und mehr als ein illustrierendes Bild. Die Autor*innen des jeweiligen VOM präsentieren kurz einen Gegenstand ihrer Forschung um daran ein Argument scharfzustellen. Dabei werden die Objekte auf ihren Mehrwert hin befragt, den sie in dem jeweiligen Forschungssetting preisgeben. Mit dem Text skizzieren unsere Wissenschaftler*innen das Bemerkenswerte, das Eigentümliche oder auch das Einzigartige, welches das jeweilige Objekt zeigt. Sie machen so die Forschung des SFB in einem kurzweiligen Schlaglicht sichtbar. Die zum VOM gehörende Visualisierung ist eine weitere Transformation des Forschungsgegenstands, die das Argument noch einmal auf eine andere Art und Weise zugänglich macht.